Jeder dreht mal durch...


... so lautete der deutsche Untertitel zu "Relatos Salvajes" (die etwas unglückliche Übersetzung mit "Wild Tales" ins Englische bzw. "Wilde Geschichten" ins Deutsche wird dem spanischen Originaltitel natürlich nicht ganz gerecht), eine bitterböse schwarze Komödie, welche Ende letzten Jahres in unseren Kinos lief und international für einige Furore gesorgt, ja sogar Nominierungen für den Golden Globe bzw. Oscar als bester fremdsprachiger Film davongetragen hatte. Dass der Film in beiden Kategorien leer ausging, ja vielleicht sogar leer ausgehen musste, ist wenig überraschend und wird von diesem Blogger auch recht anschaulich erklärt. Bei der tradititonell wertkonservativ angelegten Oscar-Verleihung holte sich stattdessen der polnische Film "Ida" die Goldstatue (Schwarzweiß-Filme oder Filme mit Holocaust-Bezug dürfen sich ja immer ganz gute Chancen ausrechnen, "Ida" ist sogar beides) und bei den politisch immer etwas mutigeren Golden Globes zog der Film gegen den russischen Beitrag "Leviathan" den Kürzeren, ein Film der - ebenso wie Relatos Salvajes übrigens - mehr als nur unterschwellig Systemkritik übt. Während Leviathan eine Parabel auf Russland unter Putin ist, ist Relatos Salvajes ein Sittenbild der argentinischen Gesellschaft und der politischen Zustände im Land. Sogar in meinem Spanisch-Lehrbuch findet sich dazu ein Kapitel ("La vida, esa hermosa crisis"), in dem auf das Phänomen der pluriempleo (Mehrfachbeschäftigung) in Argentinien im allgemeinen, und der tendencia a la neurosis der Hauptstadt (von Einheimischen gerne auch "Malos Aires" bezeichnet) im besonderen, eingegangen wird.

Relatos Salvajes nimmt die gesellschaftlichen und politischen Mißstände in Argentinien genüsslich aufs Korn, und lässt den Zuseher in 6 voneinander unabhängigen Kurzgeschichten daran teilhaben, mitlachen und vor allem auch mitleiden. Die Protagonisten sind allesamt scheinbar durchschnittliche Mitbürger, die jedoch in unglückliche Situationen geraten, welche ihre dunklen Seiten zum Vorschein bringen bzw. sie die Nerven verlieren lassen. Bei sämtlichen Geschichten kommt es immer viel schlimmer als man denkt; zwar enden einige der 6 haarsträubenden Kapitel dann letztlich unverwarteterweise mit einem Happy-End (wieviele und vor allem welche das sind, werde ich jetzt natürlich nicht verraten, denn wer mag schon Spoiler, also rate ich Euch den Film selbst anzusehen), aber eines ist sicher: es ist kein Film für schwache Nerven! Wenn es stimmt dass sich sogar Quentin Tarantino (der allseits anerkannte Branchenprimus wenn es darum geht Witz und Brutalität kongenial zu paaren) bei den Filmfestspielen von Cannes darum bemüht hat, dem Regisseur von Relatos Salvajes, Damián Szifron, die Hand zu schütteln und ihm zu seinem Film zu gratulieren, dann ist das schon fast als Ritterschlag im Filmgeschäft (zumindest im Bereich der "Black Comedy") zu werten. Ein weiterer Meister dieses Fachs, Spaniens Pedro Almódovar, hat den Film (demnach eine spanisch-argentinische Co-Produktion) übrigens produziert.

Nun muss ich mir aber gleich selbst widersprechen indem ich doch spoilere, und damit biegt mein Posting gleichzeitig ab in unendlich traurige Gefilde. Relatos Salvajes beginnt mit einem Paukenschlag, und zwar noch bevor die Opening Credits laufen. Die erste (und kürzeste) Episode nennt sich "Pasternak", in dem sich alles um eine Hauptfigur gleichen Namens dreht, welche wir allerdings nie zu Gesicht bekommen: Gabriel Pasternak, ein junger Mann der sich beruflich erfolglos als Musikkritiker versucht hat, und daraufhin eine Laufbahn als Pilot eingeschlagen hat. Auf den ersten Blick nichts ungewöhnliches, wäre da nicht die Art und Weise wie Szifron es erzählt: wir beobachten zunächst eine Frau und einen Mann (die sich wenig später als Pasternak's Ex-Freundin bzw. Ex-Diplomarbeitsbetreuer herausstellen) beim harmlosen Flirt unter Flugzeug-Sitznachbarn. Sie entdecken dass sie einen gemeinsamen Bekannten haben, von dem sie beide keine allzu hohe Meinung haben, welch ein kurioser Zufall! Allmählich mischen sich jedoch mehrere Personen aus den umliegenden Reihen ein und geben an Pasternak ebenfalls zu kennen... und niemand scheint über den jungen Mann auch nur ein gutes Wort verlieren zu können, ja er scheint der Inbegriff eines Verlierers zu sein. Als die Stimmung unter den Passagieren allmählich in Verwunderung umschlägt (denn wieso scheinen hier alle, die irgendwann einmal auf unerfreuliche Art und Weise Gabriel Pasternaks Wege gekreuzt haben, in einem Flugzeug zu sitzen?) taucht plötzlich die Stewardess auf, und eröffnet den Passagieren dass ebenjener Gabriel Pasternak auch  DER KAPITÄN DIESES FLUGES SEI!

Und damit entpuppen sich die unheimlichen Zufälle in Wahrheit als teuflischer Plan: Gabriel Pasternak hat es irgendwie geschafft, sämtliche Menschen von denen ihm in seinem Leben Kränkung widerfahren ist, auf einem Flugzeug zu versammeln, um - im Stile von Stephen King's "Carry" - zu einem finalen Gegenschlag auszuholen. Und damit nimmt das Grauen auch schon seinen Lauf: die Maschine geht in einen Sinkflug über, die Passagiere brechen in Panik aus, das Cockpit ist versperrt, die Crew klopft verzweifelt an die Türen, Kapitän Pasternak reagiert jedoch auf keinerlei Zurufe mehr (auch nicht das Bitten und Betteln seines Psychotherapeuten) und steuert die Boing 747 zielgenau in den Schrebergarten seiner Eltern!

Life imitating Art


Nun ist Überzeichnung und Verdichtung ein stilistisches Werkzeug dessen sich Filmregisseure schon immer gern bedient haben - erst recht im Fach der schwarzen Komödie. Aber wenn wir mal alle überzeichneten und fiktiven Elemente, sowie die logischen Lücken in Pasternak beiseite lassen, bleibt dann nicht ein grauenerregendes Szenario, das sich in ganz ähnlicher Form vor wenigen Tagen am GermanWings-Flug von Barcelona nach Düsseldorf abgespielt haben dürfte? Und bin ich hierzulande der einzige dem das auffällt oder im wahrsten Sinne des Wortes "spanisch" vorkommt? Zumindest in spanischsprachigen Medienportalen ist der Vergleich jedenfalls bereits gezogen worden. Ich hatte bei der Berichterstattung zu dieser furchtbaren Katastrophe von Anfang an ein ungutes Gefühl in der Magengrube (die Tatsache dass ich im Jänner den Film gesehen habe, hat dabei wohl auch mitgespielt) und habe einen Selbstmord mit Kollateralschaden bereits gestern abend befürchtet, also noch bevor die Ergebnisse der Auswertung des Voice Recorders publiziert wurden. Wäre es möglich dass sich der junge Co-Pilot, der mutmasslich 149 Insassen absichtlich in den Tod flog, von diesem Film sogar inspirieren liess? Schon Tarantino's Filme wurden oft als gewaltverherrlichend kritisiert; wenn sich herausstellen sollte dass der 27-jährige Unglückspilot Relatos Salvajes gesehen hat, dann möchte ich mir gar nicht ausmalen welcher Shitstorm über Damián Szifron hereinbrechen könnte...

Unabhängig davon gilt aber mein Mitgefühl in erster Linie den nichtsahnenden Opfern der Katastrophe - und den zahlreichen Mitbetroffenen, die hier Kinder, Mitschüler, Eltern, Freunde etc. verloren haben. Nicht auszumalen wie man mit einer solchen Tragödie umgeht, insbesondere wo sie - im Gegensatz zum Unglück von Kaprun beispielsweise - vermutlich auch noch mutwillig herbeigeführt worden sein dürfte.

Ich schaudere schon beim Gedanken was bei den weiteren Ermittlungen in dieser Causa herauskommen und was jemanden zu solch einer Tat bewegen könnte... ich fürchte am Ende wird es wieder nur die Erkenntnis sein, dass niemand ins Innere eines Menschen hineinschauen kann; dass Nachbarn und Kollegen den jungen Mann immer als "freundlich zurückhaltend" erlebt haben; die üblichen Stehsätze eben. Klar ist, dass scheinbare Nebensächlichkeiten und (tatsächliche oder eingebildete) Kränkungen eine unkontrollierbare negative Gedankenspirale im Kopf eines Menschen auslösen und diesen zu völlig vermessenen, aber gleichzeitig absolut rationalen, sprich: kühl-berechnenden Handlungen führen können (man denke nur an Anders Breivik oder die Amokläufe an US-Schulen)... und dass wir dieses Risikos leider niemals völlig Herr werden können.

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